Great Escapes und „Shivers And Shipwrecks“: Über die kleine, große Welt und ein zerrissenes „Ich“
28.02.2018 | Merten Mederacke
„Shivers And Shipwrecks“ ist die neue EP des Trios Great Escapes aus Münster. Doch sie ist noch viel mehr als bloß fünf neue Emo-Punk-Lieder irgendeiner Kleinstadtpunkkapelle. „Shivers And Shipwrecks“ ist eine Klassenfahrt von Spitzbuben Anfang 20, die am besten nie enden soll, obwohl jeder immenses Heimweh verspürt. Ein pantomimisches Abtasten des Erwachsen-Werden-Glaskastens, der zwar Aussicht auf alles Umliegende gewährt, aber alsbald im Dickicht der kleinen und größeren Alltagskämpfe versinkt. Eine Bitte um Verzeihung, so ernst gemeint wie ein „Die Uhr steht still“ am 01. April. Denn was kann man denn dafür, dass man sich in dieser Zeit nicht zurechtfindet? Solang umhergestoßen von sich ständig neu ergebenden Möglichkeiten, bis sie einen in Ketten legen. Man kann sich nicht entscheiden. Was ist denn richtig? Und was will man? Fragen über Fragen, wie Mantras wiederholt, doch das Gefühl dazu ist stets ein anderes. Also lässt man den Schmerz zu und guckt, ob der nicht vielleicht zu irgendwas gut ist.
Und Great Escapes beweisen: Er ist definitiv zu etwas gut. Schließlich hat dieses Gefühlschaos zu „Shivers And Shipwrecks“ geführt. Einer durch und durch gelungenen Komposition aus eben jenen Emotionen und Dauerbrennerfragen der jungen Leute, sowie einer Musik, die viele Altersgenossen abholen wird. Aber da die Emo-Gemeinschaft bis hinein in die Generation Thees Uhlmann und Kettcar reicht, findet vielleicht auch ein Spätdreißiger oder falscher Frühfünziger gefallen an Great Escapes vertonter Unsicherheit im Alltag oder Missgunst am Zeitgeist.
Great Escapes warten auch auf ihrer zweiten Veröffentlichung mit perlend verzerrten Gitarren und rollenden Bässen auf. Dazu stößt der beinahe typische melodisch, aber kratzige Alternative-Gesang keinesfalls auf taube Ohren. Zumal Frederik Tebbe und Maik Osterhage immer noch einiges zu sagen haben, womit es sich zu beschäftigen lohnt. Ging es auf ihrem Debüt-Album noch vermehrt um die Weltbilder und Lebensweisen anderer, die für einen selbst nicht in Frage kommen, dreht sich „Shivers And Shipwrecks“ mehr um eigene Geschichtsschreibung.
Metaphern und Geschichten der Überforderung, Verzweiflung und Unsicherheit sind definitiv ein nimmer versiegender Quell für Nicht-mehr-nur-Teenage-Angst-Texte und treibende Gitarrenriffs. Mit großen Schritten entwickeln sich Great Escapes auch musikalisch weiter. „Shivers and Shipwrecks“ durften sie als erste externe Kapelle im Studio der Donots in Münster aufnehmen.
Das Ergebnis ist eine absolut überzeugende Mixtur aus Emo-Punk, Alternative und Post-Irgendwas. Fünf Lieder, die Herzen höher schlagen, Köpfe emsig nicken und Kehlen rau werden lassen werden.
Wertung
Anker lichten, Leinen los! Great Escapes brechen auf ins Ungewisse. Schnapszahlen sind da nicht der schlechteste Begleiter. Und ihre neue EP „Shivers And Shipwrecks“ auch nicht. Ahoi!
Merten Mederacke
Merten hat Soziologie, Politik und Philosophie studiert. Seit Jahren treibt er sich auf Konzerten und Festivals herum und fröhnt allem, was Gitarre, Rotz und Kreativität so ergießen. Bei Album der Woche versucht er stets, den Funken seiner Passion auf jeden Lesenden überspringen zu lassen.